Es ist ein Vorwurf, der sitzt. Er trifft den hart arbeitenden Handwerker genauso wie die alleinerziehende Krankenschwester oder den angestellten Ingenieur mitten ins Mark. “Bist du zu blöd, um mit Geld umzugehen?” – so oder so ähnlich schallt es uns derzeit aus den Feuilletons entgegen. Der Anlass ist eine Debatte, die durch einen Artikel der Süddeutschen Zeitung neu entfacht wurde. Der Tenor: Die Deutschen verdienen zwar gut, besitzen aber im europäischen Vergleich beschämend wenig Vermögen. Die Schlussfolgerung einiger Kommentatoren: Wir sind selbst schuld. Wir sparen falsch, wir sind zu ängstlich an der Börse, wir haben keine Finanzbildung.

Doch ist das die Wahrheit? Oder ist es der zynische Versuch, ein strukturelles Staatsversagen auf den einzelnen Bürger abzuwälzen? Wenn wir die nackten Zahlen betrachten, bröckelt die These von der “deutschen Unfähigkeit” gewaltig. Was bleibt, ist das Bild eines Landes, das seine Leistungsträger systematisch zur Ader lässt.

Der Mythos vom reichen Deutschen

Schauen wir uns die Fakten an. Es stimmt, die Löhne in Deutschland sind im europäischen Vergleich hoch. Doch was kommt davon auf dem Konto an? Ein Blick auf die OECD-Statistiken ist ernüchternd. Weltweit kämpfen wir oft mit Belgien um den traurigen Spitzenplatz bei Steuern und Abgaben. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer drückt in der Summe fast 40 Prozent seines Bruttolohns direkt wieder ab – durch Einkommensteuer und Sozialabgaben.

Aber das ist erst der Anfang der Geschichte. Denn der Euro, der dann noch “netto” auf dem Konto landet, ist noch lange nicht sicher. Sobald wir ihn ausgeben, schlägt der Staat ein zweites Mal zu. Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, CO2-Steuer, Stromsteuer – die Liste ist endlos. Wer behauptet, die Deutschen könnten nicht mit Geld umgehen, ignoriert geflissentlich, dass ihnen kaum Geld zum “Umgehen” übrig gelassen wird. Es ist, als würde man einem Läufer beide Beine zusammenbinden und ihn dann verspotten, weil er den Sprint nicht gewinnt.

Vermögen im freien Fall: Der europäische Vergleich

Besonders schmerzhaft wird es, wenn wir über den Tellerrand schauen. Ein Blick auf die Vermögensverteilung in Europa zeigt: Deutschland liegt weit hinten. Selbst Länder wie Slowenien oder Zypern ziehen an uns vorbei, wenn es um das Medianvermögen geht – also den Wert, der genau in der Mitte der Bevölkerung liegt und nicht durch einige wenige Supermilliardäre verzerrt wird.

In Südzypern beispielsweise zahlen Unternehmer oft nur 12,5 Prozent Steuern. Das Ergebnis? Die Menschen haben Spielraum. Sie können Vermögen aufbauen, investieren und sich absichern. In Deutschland hingegen herrscht oft das Prinzip “Von der Hand in den Mund”, selbst in der Mittelschicht. Die Angst vor der Inflation und die Unsicherheit treiben viele dazu, ihr weniges Erspartes auf dem Girokonto liegen zu lassen. Ja, das ist finanziell nicht optimal. Aber ist es Dummheit? Oder ist es die resignierte Vorsicht in einem Land, in dem man nie weiß, welche Abgabe als nächstes erhöht wird?

Die Definition von “Reich”: Ein schlechter Scherz?

Um die Absurdität der Debatte zu verstehen, muss man sich ansehen, was in Deutschland heute als “reich” gilt. Laut einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zählt ein Single mit einem Nettoeinkommen von mindestens 1.850 Euro bereits zur Mittelschicht. Ab 5.780 Euro Netto gilt man als “einkommensreich”.

Rechnen wir das hoch: Das entspricht einem Jahresbruttogehalt von etwa 70.000 Euro. Das ist zweifellos viel Geld. Aber ist man damit “reich” im klassischen Sinne? Kann man sich damit eine Villa leisten, drei Sportwagen und Luxusurlaube? Die Realität sieht anders aus. In einer deutschen Großstadt reicht dieses Gehalt für eine ordentliche Mietwohnung, ein normales Auto und einen jährlichen Urlaub. Von “Reichtum”, der finanzielle Unabhängigkeit bedeutet, ist das weit entfernt. Man ist wohlhabend, ja – aber man ist immer noch ein Hamster im Rad, der strampeln muss, um den Status Quo zu halten.

Der zerplatzte Traum vom Eigenheim

Nirgendwo wird das Scheitern der deutschen Vermögenspolitik so deutlich wie beim Thema Wohnen. In vielen europäischen Ländern ist die eigene Immobilie der wichtigste Baustein der Altersvorsorge. In Deutschland besitzen nicht einmal 50 Prozent der Menschen Wohneigentum.

Liegt das daran, dass wir lieber Miete zahlen? Wohl kaum. Es liegt daran, dass der Erwerb von Eigentum hierzulande zu einem Hürdenlauf gemacht wurde, den nur noch Erben locker meistern. Nehmen wir Nordrhein-Westfalen: 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer. Dazu kommen etwa 1,5 Prozent für den Notar und weitere Gebühren für den Grundbucheintrag. Bevor man auch nur einen Stein des Hauses bezahlt hat, sind zehntausende Euro an Nebenkosten fällig – Geld, das man nicht finanzieren kann, sondern bar mitbringen muss.

Und wer es dann doch geschafft hat? Der zittert jetzt vor der neuen Grundsteuerreform. In vielen Gemeinden explodieren die Hebesätze. Für manche Hausbesitzer bedeutet das Kostensteigerungen von mehreren hundert Prozent. Das ist keine Steuergerechtigkeit mehr, das grenzt an Enteignung durch die Hintertür. Wer sich sein Haus vom Munde abgespart hat, muss nun fürchten, es sich im Alter nicht mehr leisten zu können.

Infrastruktur und Sicherheit: Wo fließt das Geld hin?

Die hohe Abgabenlast wäre vielleicht noch zu ertragen, wenn die Gegenleistung stimmen würde. In Skandinavien zahlen die Menschen auch hohe Steuern, erhalten dafür aber ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem und eine top Infrastruktur. Und in Deutschland?

Wir zahlen Premium-Preise für eine “Discounter-Leistung”. Brücken sind marode, die Bahn ist ein Glücksspiel, Schulen verfallen. Und dann ist da das Thema Sicherheit. Die Kriminalitätsstatistiken sprechen eine beunruhigende Sprache. Allein im Jahr 2024 wurden über 29.000 Messerdelikte registriert. Der Staat, der so effizient darin ist, Steuern einzutreiben, wirkt seltsam machtlos, wenn es darum geht, die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu garantieren. Das Gefühl, dass der “Deal” zwischen Bürger und Staat – Steuern gegen Schutz und Infrastruktur – einseitig aufgekündigt wurde, wächst.

Fazit: Wir brauchen eine neue Ehrlichkeit

Es ist Zeit, die Scheindebatten zu beenden. Nicht der Bürger ist zu dumm zum Rechnen, das System ist krank. Wenn Arbeit sich nicht mehr lohnt, weil jede Lohnerhöhung von der kalten Progression aufgefressen wird; wenn Sparen bestraft und Konsum verteuert wird; wenn Eigentum ein Luxusgut für wenige wird – dann haben wir kein Bildungsproblem, sondern ein Politikproblem.

Wir müssen aufhören, uns einreden zu lassen, wir müssten nur “besser mit Geld umgehen”. Wir müssen anfangen zu fordern, dass der Staat besser mit unserem Geld umgeht. Wir brauchen eine Steuerreform, die Leistung belohnt und nicht bestraft. Wir brauchen Bedingungen, die Eigentumserwerb fördern statt verhindern. Solange das nicht passiert, bleibt der Vorwurf aus der Zeitung genau das, was er ist: Eine bodenlose Frechheit, die von den wahren Problemen ablenken soll.