Es war ein Abend, der in der Gelsenkirchener Kommunalpolitik noch lange nachhallen wird, ein Abend, an dem die routinierten Mechanismen der Macht plötzlich versagten und das Unvorhersehbare eintrat. In den Fluren des Rathauses herrscht seitdem eine Mischung aus Unglauben, Wut und blankem Entsetzen – zumindest bei den etablierten Parteien. Was war geschehen? Eigentlich schien der Plan wasserdicht: SPD und CDU hatten sich im Vorfeld auf eine gemeinsame Liste verständigt, ein strategisches Bündnis, das vor allem ein Ziel hatte – die Verhinderung eines AfD-Kandidaten in einer repräsentativen Position. Doch als die Stimmen ausgezählt waren, blickte man in weit aufgerissene Augen und offene Münder. Norbert Emmerich, der Kandidat der AfD, wurde zum ehrenamtlichen Vizebürgermeister gewählt. Ein Ergebnis, das rechnerisch eigentlich gar nicht hätte möglich sein dürfen, wenn sich alle an die Fraktionsdisziplin gehalten hätten.

Der Moment, als die “Brandmauer” bröckelte
Die Ausgangslage war klar definiert. Die AfD-Fraktion im Gelsenkirchener Rat verfügt über 20 Sitze. Eine beachtliche Zahl, die das Ergebnis der letzten Wahlen widerspiegelt, in denen die Partei in der Ruhrgebietsstadt starke 30,36 Prozent holte und damit fast gleichauf mit der SPD lag. Dennoch reicht diese Zahl allein nicht aus, um gegen eine Allianz der anderen Parteien einen Bürgermeisterposten zu erobern. Doch das Ergebnis der geheimen Wahl sprach eine andere, deutliche Sprache: Norbert Emmerich erhielt 23 Stimmen.
Das bedeutet im Klartext: Drei Stadträte, die nicht der AfD angehören, haben ihm ihre Stimme gegeben. Drei “Abweichler” aus den Reihen der anderen Fraktionen entschieden sich im Schutz der Wahlkabine gegen den verordneten Parteikonsens und für den Kandidaten der Alternative für Deutschland. Diese drei Stimmen waren das Zünglein an der Waage, das die ausgeklügelte Strategie von SPD und CDU wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen ließ. Durch das in Gelsenkirchen angewandte d’Hondtsche Auszählungsverfahren reichten Emmerich diese 23 Stimmen, um am CDU-Kandidaten Werner Wöll vorbeizuziehen, der eigentlich für den Posten des zweiten Bürgermeisters vorgesehen war.
“Man kann im Hinterzimmer kungeln, so viel man will”
Für Norbert Emmerich und seine Fraktion war der Wahlabend ein Triumph, der selbst sie überraschte. “Mir fehlen die Worte, ich hätte damit nicht gerechnet”, wurde er kurz nach der Verkündung zitiert. Doch schnell wich die Überraschung einer politischen Kampfansage an die etablierten Strukturen. Emmerich sieht in den drei zusätzlichen Stimmen ein Zeichen dafür, dass die viel beschworene “Brandmauer” gegen seine Partei Risse bekommen hat – und zwar nicht durch Druck von außen, sondern durch die Überzeugung von innen.
Sein Zitat, das nun in den lokalen Medien die Runde macht, trifft den Nerv der Debatte: “Da sieht man wieder: Man kann im Hinterzimmer kungeln, so viel man will, es gibt ehrliche Menschen, die sagen, wir lassen uns nicht verbiegen.” Mit “Hinterzimmer-Kungelei” spielt er auf die Absprachen zwischen SPD und CDU an, die Posten untereinander aufzuteilen, um die zweitstärkste Kraft im Rat außen vor zu lassen. Für Emmerich sind die drei unbekannten Unterstützer keine Verräter, sondern aufrechte Demokraten, die sich dem Fraktionszwang verweigerten.

Die Reaktion der Etablierten: Wut, Entsetzen und Demokratiezweifel
Ganz anders sieht die Gefühlslage bei den Verlierern des Abends aus. Die Reaktionen von SPD und CDU lassen tief blicken und zeigen, wie sehr dieses Ereignis das Selbstverständnis der Parteien erschüttert hat. Von einer souveränen Annahme eines demokratischen Wahlergebnisses ist wenig zu spüren. Stattdessen dominieren Vokabeln, die man eher aus Katastrophenberichten kennt.
Sascha Kurth, der Fraktionsvorsitzende der CDU, sprach im WDR offen von einem “Desaster”. Für ihn ist der Vorfall nicht nur eine politische Niederlage, sondern ein schwerer Schaden für die gesamte politische Arbeit der kommenden Jahre. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Wahl eines Vizebürgermeisters, der demokratisch gewählt wurde, wird als “Beschädigung” der politischen Landschaft gebrandmarkt. Die Unterstellung schwingt mit, dass allein die Person Emmerich oder seine Parteizugehörigkeit das Amt beschmutzen würden – unabhängig davon, wie er seine Aufgaben tatsächlich ausführen wird.
Noch schärfer und grundsätzlicher fiel die Kritik der SPD aus. Dominik Schneider, Fraktionschef der Sozialdemokraten, ging so weit, den drei unbekannten Wählern ihre demokratische Gesinnung abzusprechen. “Die drei sollten sich wirklich fragen, ob sie Demokraten sind”, wetterte er. Ein Satz, der aufhorchen lässt. Definiert sich ein Demokrat neuerdings dadurch, dass er das wählt, was die Parteiführung vorgibt? Ist eine geheime Wahl nur dann demokratisch legitimiert, wenn das “richtige” Ergebnis dabei herauskommt? Diese Haltung, die legitime Wahlentscheidungen von Mandatsträgern delegitimiert, sobald sie dem politischen Gegner nützen, offenbart ein Verständnis von Demokratie, das viele Bürger zunehmend kritisch sehen. Schneider schloss kategorisch aus, dass die Abweichler aus seiner eigenen SPD-Fraktion stammen könnten – eine Behauptung, die angesichts der geheimen Wahl wohl eher als verzweifelte Schutzbehauptung denn als gesichertes Wissen gewertet werden darf. Sein Fazit: “Ein schlechter Tag für Gelsenkirchen.”
Ein Déjà-vu aus Bad Salzuflen?
Der Vorfall in Gelsenkirchen ist kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine Kette ähnlicher Ereignisse, die zeigen, wie nervös die politische Landschaft in Deutschland geworden ist. Erst vor wenigen Tagen spielte sich in Bad Salzuflen ein ähnliches Drama ab. Auch dort wurde überraschend ein AfD-Politiker in ein Amt gewählt. Die Reaktion folgte prompt: Nur 14 Tage später wurde die Wahl rückgängig gemacht, die gewählte Person wieder abgewählt.
Beobachter fragen sich nun, ob Gelsenkirchen das gleiche Schicksal blüht. Wird man Wege suchen, die Geschäftsordnung zu ändern oder Abstimmungen zu wiederholen, bis das Ergebnis passt? Die aggressive Rhetorik von SPD und CDU deutet zumindest darauf hin, dass man sich mit Norbert Emmerich als Vizebürgermeister nicht abfinden will. Es wird bereits spekuliert, ob juristische Winkelzüge oder politischer Druck genutzt werden, um die Wahl zu revidieren.
Doch solche Manöver sind riskant. Sie könnten genau das Gegenteil dessen bewirken, was die etablierten Parteien erreichen wollen. Wenn der Wähler – oder in diesem Fall der gewählte Stadtrat – den Eindruck gewinnt, dass Wahlen zur Farce werden, sobald die AfD gewinnt, könnte das die Politikverdrossenheit weiter anheizen und die Sympathiewerte der Alternative für Deutschland eher noch steigern. Wer demokratische Spielregeln ändert, weil er das Spiel verliert, begibt sich auf sehr dünnes Eis.
Die Realität in den Kommunen
Der Fall Gelsenkirchen wirft ein Schlaglicht auf eine Realität, die in den großen Talkshows der Republik oft ausgeblendet wird: Auf kommunaler Ebene bröckelt die strikte Ausgrenzung der AfD. Es gibt mittlerweile zahlreiche Beispiele – von Großschirma bis hin zu diversen Gemeinderäten –, in denen AfD-Politiker oder von der AfD unterstützte parteilose Kandidaten in Ämter gewählt werden, oft mit deutlichen Mehrheiten.
In den allermeisten Fällen ist danach nicht das Abendland untergegangen. Die “Hütte brennt” nicht, wie es oft prophezeit wird. Die gewählten Vertreter machen ihre Arbeit, kümmern sich um lokale Belange, um Straßenbau, Kitas oder den Haushalt. Die Dämonisierung, die auf Bundesebene betrieben wird, stößt in der pragmatischen Welt der Kommunalpolitik an ihre Grenzen. Wenn ein Kandidat vor Ort als kompetent oder zumindest als die bessere Alternative wahrgenommen wird, dann wählen ihn die Menschen – oder eben auch die Kollegen im Stadtrat.
Fazit: Ein Weckruf für die Demokratie
Was bleibt von diesem Abend in Gelsenkirchen? Es bleibt die Erkenntnis, dass sich politische Mehrheiten nicht dauerhaft durch moralischen Druck oder Hinterzimmer-Absprachen konservieren lassen. Die drei Stimmen für Norbert Emmerich waren ein Signal. Ob es ein Signal des Protests, der Überzeugung oder einfach nur der Frustration über die eigenen Parteiführungen war, wissen nur die drei Wähler selbst.
Die etablierten Parteien stehen nun vor der Wahl: Reagieren sie mit noch mehr Ausgrenzung, mit Abwahlverfahren und der Beschimpfung der eigenen Leute? Oder stellen sie sich der inhaltlichen Auseinandersetzung und akzeptieren, dass Demokratie auch bedeutet, unbequeme Ergebnisse auszuhalten? Die nächsten Wochen in Gelsenkirchen werden zeigen, wie belastbar das demokratische Verständnis der Akteure wirklich ist. Eines ist jedoch sicher: Mit der bloßen Beschwörung von “Brandmauern” lässt sich der politische Wandel im Land nicht mehr aufhalten. Der Geist ist aus der Flasche, und er lässt sich nicht durch Empörung zurückzwingen.
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