Vom Bankkaufmann zum Millionen-Verzocker: Thomas Melchior warnt mit lebensgefährlichen Aktionen vor Sportwetten

Es ist ein Bild, das provoziert, irritiert und sofort ins Auge springt: Ein Mann steht vor dem Stadion von Bayer Leverkusen. Um ihn herum tausende Fans in Rot und Schwarz, die ihrem Verein entgegenfiebern. Doch dieser Mann trägt das Trikot des verhassten Erzrivalen, des 1. FC Köln. In seinen Händen hält er ein einfaches Pappschild mit der Aufschrift: „Wette verloren“. Was auf den ersten Blick wie eine dumme Mutprobe oder der schlechte Scherz eines verlorenen Fans aussieht, ist in Wahrheit eine der eindringlichsten und mutigsten Kampagnen gegen Spielsucht, die Deutschland je gesehen hat.
Der Mann im falschen Trikot heißt Thomas Melchior. Und er hat keine Wette verloren, bei der es um einen Kasten Bier ging. Er hat sein ganzes Leben verloren.
Der tiefe Fall eines Bankkaufmanns
Thomas Melchiors Geschichte ist der Albtraum jeder bürgerlichen Existenz. Gelernt hat er Bankkaufmann, ein Beruf, der für Sicherheit, Zahlenverständnis und Seriosität steht. Doch im Jahr 2005 änderte eine Fernsehwerbung alles. Sie suggerierte ihm, dass man mit ein bisschen Sportwissen leichtes Geld verdienen könne. „Fasziniert hat mich, dass suggeriert wurde, dass man mit Sportwissen ganz einfach Geld verdienen kann“, erinnert er sich.
Aus 10 Euro Einsatz wurden schnell 11 Euro Gewinn. Ein Plus von 10 Prozent. In seinem Kopf begann es zu rattern: Was wäre, wenn ich 100 oder 1000 Euro gesetzt hätte? Es war der Anfang vom Ende. Thomas beschloss, sein Geld in Sportwetten „anzulegen“. Doch was als vermeintlich kluge Investition begann, endete in einer Katastrophe.
Die Spirale drehte sich schnell und gnadenlos. Thomas verlor nicht nur sein eigenes Geld. Er lieh sich Geld von der Familie, von Freunden, von Bekannten. Als niemand mehr etwas gab, wurde er kriminell. Betrug, Erschleichen von Leistungen, Computerbetrug – die Liste seiner Straftaten ist lang. Über 800.000 Euro hat er insgesamt verzockt. Geld, das ihm nicht gehörte. Geld, das für seine Zukunft, seine Sicherheit gedacht war.
Der absolute Tiefpunkt und der Weg in den Knast
Der Absturz war total. Thomas verlor seinen Job, musste zurück ins Elternhaus ziehen und lebte dort zwei Jahre lang im Keller, versteckt vor der Welt, weil sich sein Vater für ihn schämte. Die Familie litt immens unter seiner Sucht. „Wenn man den Namen auf dem Handy gesehen hat, wusste man: Nicht ans Telefon gehen, er will Geld“, erzählt sein Bruder Stefan.
Die Verzweiflung trieb Thomas bis an den Rand des Selbstmords. „Niemand wusste, wie man mir helfen kann“, sagt er heute. 2019 kam dann die juristische Quittung: Fünfeinhalb Jahre Haft wegen gewerbsmäßigen Betrugs in über 200 Fällen. Für seine Mutter war das Urteil paradoxerweise eine Erleichterung: „Jetzt kann ihm nichts mehr passieren, jetzt ist er erst einmal sicher.“ Der ständige Druck, die Lügen, das Betteln um Geld – all das hatte vorerst ein Ende.

Doch selbst der Knast war keine Heilung. Nach dreieinhalb Jahren wurde Thomas auf Bewährung entlassen und wurde sofort wieder rückfällig. Trotz einer Sperre im System „Oasis“ ließ ihn ein Wettbüro weiterspielen. Ein Beweis dafür, wie löchrig der Spielerschutz in Deutschland oft noch ist. „So funktioniert Sucht nicht“, kommentiert Thomas trocken den Ratschlag, er hätte ja einfach nicht hingehen müssen.
Ein provokanter Kampf gegen die Sucht
Heute, mit 46 Jahren, hat Thomas Melchior seine Sucht besiegt. Aber er will nicht nur clean bleiben, er will Wiedergutmachung leisten – auf seine eigene, radikale Art. Seit Monaten stellt er sich vor Bundesligastadien, immer im Trikot des jeweiligen Erzfeindes. In Leverkusen als Kölner, in Dortmund vielleicht als Schalker. Er sucht bewusst die Konfrontation, um Aufmerksamkeit zu erregen.
„Cool Jungs, Finger weg vom Zocken, ganz wichtig!“, ruft er den Fans zu. Seine Botschaft ist simpel, aber sie kommt an. Viele Fans bleiben stehen, sind irritiert, dann neugierig. Sie erzählen von eigenen Verlusten, von Freunden, die tausende Euro verspielen. „Ich habe viele Freunde, die geben im Jahr 60.000 Euro aus“, berichtet ein Fan vor der Kamera. Es sind erschreckende Zahlen, die zeigen, wie tief die Sportwetten-Sucht in der Fankultur verwurzelt ist.
Die Aktionen sind nicht ungefährlich. Die Polizei muss Thomas oft abschirmen, in Darmstadt wurde ein Fan sogar handgreiflich. „Verpiss dich, du Fotze!“, schrie er Thomas an. Doch der Ex-Süchtige bleibt ruhig. Er weiß, dass er provoziert, aber er weiß auch, dass er nur so Gehör findet.
Millionen erreichen, um einen zu retten
Thomas nutzt die Macht der sozialen Medien. Seine Videos gehen viral, wurden bereits über 42 Millionen Mal angeklickt. Er erreicht damit genau die Zielgruppe, die am meisten gefährdet ist: junge, fußballbegeisterte Männer, die glauben, sie hätten das System durchschaut.
„Ich möchte mich nicht hinter der Sucht verstecken, sondern Verantwortung übernehmen“, sagt Thomas Melchior. Er will warnen, aufklären und den Wettanbietern zeigen, dass ihr Geschäftsmodell auf dem Leid von Menschen wie ihm basiert. Rund 1,3 Millionen Menschen gelten in Deutschland als glücksspielsüchtig, 230.000 davon hängen an Sportwetten.
Thomas Melchior hat einen hohen Preis bezahlt. Er hat Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht, das Vertrauen seiner Familie missbraucht und ein Vermögen verspielt. Doch heute steht er wieder aufrecht. Nicht als Gewinner einer Wette, sondern als Gewinner über sich selbst. Sein Schild „Wette verloren“ ist Mahnung und Hoffnung zugleich: Es ist nie zu spät, das Spiel zu beenden.
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