Deutschland cancelt: Von Hoffmann von Fallersleben bis Professor Schwab – Eine 200-jährige Tradition der Angst vor dem kritischen Geist

Die Zeiten, so wird uns versichert, waren nie besser für die Meinungsfreiheit und die akademische Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland. Wir leben in einer gefestigten, freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die als Bollwerk gegen jegliche Form von Zensur oder politischer Verfolgung gilt. Doch wer genauer hinschaut, bemerkt Risse im Fundament dieser Gewissheit. Die jüngsten Vorkommnisse rund um den Rechtswissenschaftler Professor Martin Schwab legen eine beunruhigende Wahrheit offen: Die Mechanismen der Ausgrenzung und der beruflichen Beschränkung von Kritikern sind keineswegs ein Phänomen der Vergangenheit oder autoritärer Systeme. Sie sind in Deutschland quicklebendig.

Die Geschichte wiederholt sich nicht nur, sie reimt sich auf unheimliche Weise. Die heutige “Cancel Culture” – ein Phänomen, das eine Person aufgrund ihrer Äußerungen oder Ansichten aus dem öffentlichen und professionellen Leben zu verbannen sucht – zieht beängstigende Parallelen zu den reaktionären Tendenzen des 19. Jahrhunderts. Der Fall von Professor Schwab, dem seine eigene Fachschaft eine Lehrveranstaltung entzog, steht in einer dunklen Tradition, die vor knapp 200 Jahren bereits den Dichter und Professor Hoffmann von Fallersleben traf. Es ist die unheilvolle Kontinuität der Angst vor dem kritischen Geist.

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Der moderne Pranger: Die Akte Martin Schwab

Martin Schwab, ein Rechtswissenschaftler von Rang, fand sich unlängst im Zentrum eines modernen akademischen Skandals wieder. Seine „Kanzelung“ durch die eigene Fachschaft ist ein Lehrstück in Sachen institutioneller Ausgrenzung, die mit der angeblichen Verteidigung der demokratischen Prinzipien begründet wird. Schwab, dessen Expertise im Jura-Bereich unbestritten ist, hat sich außerhalb der Universität lautstark positioniert und damit den Unmut jener Kreise auf sich gezogen, die eine einheitliche, systemkonforme Haltung fordern.

Der Hintergrund des aktuellen Vorfalls ist frappierend einfach und zugleich tief symbolisch. Professor Schwab sollte eine Vorlesung für angehende Juristen halten. Das Thema war brisant und zugleich elementar für jeden Studenten: „Meine Rechte als Prüfling im staatlichen Teil der ersten juristischen Prüfung“. Es war eine Veranstaltung, die darauf abzielte, Studierende über ihre verbrieften Rechte und Pflichten aufzuklären – ein Akt, der im Grunde das Fundament der Rechtsstaatlichkeit stärken sollte. Doch genau diese Aufklärung wurde ihm verwehrt.

Die Fachschaft Jura, die studentische Vertretung, schickte eine Rundmail an alle Studierenden, die einem öffentlichen Dekret gleichkam. Darin teilten sie mit, dass die angekündigte Veranstaltung nicht stattfinden würde. Die Begründung? Sie hatten „mehrere Hinweise zu den aktuellen außeruniversitären Aktivitäten des Referenten“ erhalten. Nach kritischer Prüfung, so die Mitteilung weiter, musste die Fachschaft feststellen, dass Schwabs Tätigkeiten „mit denen in unserer Satzung festgelegten Grundsätzen, nämlich der freiheitlich demokratischen Grundordnung, unvereinbar sind.“

Die Mechanismen dieser Ausgrenzung sind hierbei entscheidend: Es geht nicht um die fachliche Qualität seiner Lehre oder um Verstöße im universitären Rahmen. Es geht um seine außeruniversitären Aktivitäten. Martin Schwab vertritt als Anwalt Mandanten aus der sogenannten „Maßnahmenkritischen Szene“, jener Gruppe von Bürgern und Organisationen, die während der COVID-19-Pandemie die Evidenz und Verhältnismäßigkeit der staatlich verordneten Grundrechtseinschränkungen kritisiert haben. Schwab hatte die Maßnahmen selbst immer wieder scharf kritisiert und sich jüngst auch an Veranstaltungen, beispielsweise mit „kritischen Richtern“, beteiligt.

Die Fachschaft räumte selbst ein, dass es ein „Fehler“ war, diese „kritische Auseinandersetzung“ erst im Nachhinein vorgenommen zu haben. Sie kündigte die Aufstellung „verbindlicher Richtlinien für die Auswahl von Referentinnen“ an. Was sich hier offenbart, ist eine beunruhigende Entwicklung: Akademische Räume, die per Verfassung und Tradition dem freien Diskurs und der wissenschaftlichen Kontroverse verpflichtet sind, sollen durch ideologische Filter gesäubert werden. Ein Jurist, der Bürger in Grundrechtsfragen vertritt und kritische Richter unterstützt, wird von einer studentischen Vertretung als Gefahr für die Grundordnung eingestuft. Dies ist eine groteske Verkehrung des Prinzips der akademischen Freiheit und eine eklatante Einschränkung der Meinungsfreiheit, die das juristische Gewissen Deutschlands in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Es signalisiert: Kritik wird nicht nur ignoriert, sie wird bestraft.

Die Wiederholung der Geschichte: Hoffmann von Fallersleben und die „Unpolitischen Lieder“

Diejenigen, die der Meinung sind, dass die „guten alten Zeiten“ frei von solch reaktionären Tendenzen waren, irren sich zutiefst. Der Blick in die deutsche Geschichte, genauer gesagt ins Vormärz des 19. Jahrhunderts, zeigt eine beängstigende Blaupause für den Fall Schwab. Damals, lange vor der Gründung der Bundesrepublik und der Verankerung der Grundrechte, traf es einen der größten deutschen Dichter und Professoren: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben.

Hoffmann von Fallersleben, geboren 1798, war ein hoch angesehener Philologe und Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau. Doch sein akademisches Leben wurde abrupt beendet – ebenfalls wegen seiner „außeruniversitären Aktivitäten“, nämlich seiner politischen Dichtung.

Im Jahr 1842 veröffentlichte Fallersleben einen Gedichtband, der satirischer und politisch brisanter kaum hätte sein können, mit dem programmatischen Titel: Unpolitische Lieder. Der Titel war reine Ironie. In Wahrheit waren diese Lieder eine schonungslose Abrechnung mit der politischen Obrigkeit, der Zensur und dem mangelnden Freiheitswillen seiner Landsleute. Die Reaktionen der reaktionären Mächte waren prompt und vernichtend. Die preußischen Behörden reagierten auf die subversiven Verse mit brutaler Härte. Fallersleben wurde im selben Jahr, 1842, seine Professur entzogen. Er verlor alle Pensionsansprüche. Die Begründung war klar: Er hatte gegen die Pflichten eines königlich-preußischen Beamten verstoßen, indem er die bestehende Ordnung kritisierte und zum Denken anregte. Er wurde zu einem heimatlosen, verfolgten Wanderer in Deutschland.

Eines seiner bekanntesten Gedichte aus diesem Band, „Deutsche Verzweiflung“, fasst die Verzweiflung des kritischen Geistes über die Trägheit des Volkes und die Härte der Herrschenden zusammen. Die Zeilen, die der Obrigkeit den Spiegel vorhielten, kosteten ihn seine Existenz:

in Angst und bürgerlichem Leben wurde nie eine Kette gesprengt hier muss man schon mehr geben die Freiheit wird nicht geschenkt Es sind die glücklichen Sklaven der Freiheit größter Feind drum sollt ihr Unglück haben und spüren jedes Leid Nicht Mond, nicht Brand, nicht Kerker nicht Standrecht obendrein Es muss noch kommen stärker wenn es soll von Wirkung sein Ihr müsst zu Bettlern werden müsst hungern alle samt Mühen und Beschwerden verflucht sein und verdammt Euch muss das bisschen Leben so gründlich sein verhasst dass ihr es fort wollt geben wie eine Qual und Last Erst dann vielleicht erwacht noch in euch ein besserer Geist Der Geist, der über Nacht noch euch hin zur Freiheit reißt

Die Tragik der Geschichte liegt in der Tatsache, dass Hoffmann von Fallersleben der Verfasser des Textes unserer Nationalhymne ist – des „Liedes der Deutschen“, das heute als Symbol der deutschen Einheit und Freiheit gilt. Die Linke von heute mag wünschen, man möge sich an diesen unbequemen Dichter nicht erinnern, weil seine Texte zu kritisch, zu freiheitsliebend, zu patriotisch im besten, weil kritischen Sinne sind. Doch seine Kanzelung war ein mahnendes Beispiel dafür, dass der Preis für das „unpolitische“ Dichten die Vernichtung der beruflichen Existenz sein kann.

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Die erschreckende Kontinuität der Ausgrenzung

Die Parallelen zwischen dem Schicksal des Dichters und Professors Fallersleben 1842 und dem des Juristen Schwab heute sind nicht nur beängstigend, sie sind eine tiefgreifende Mahnung an die Verfasstheit unserer Gegenwart. In beiden Fällen wird die berufliche Existenz oder zumindest die akademische Lehrfreiheit eines Professors aufgrund seiner politischen Haltung jenseits des Hörsaals beschnitten oder gar ausgelöscht.

    Die Stigmatisierung der Kritik: Fallerslebens Lieder wurden als zu politisch, als staatsfeindlich empfunden. Schwab vertrat eine „Maßnahmenkritik“, die in weiten Teilen der Gesellschaft als systemgefährdend oder zumindest als unerwünscht stigmatisiert wurde. In beiden Epochen wurde die Kritik an der Obrigkeit (Preußen vs. aktueller Staat/Mainstream) zum Ausschlusskriterium für die Ausübung einer akademischen Tätigkeit.

    Die Heuchelei des „unvereinbar“: Fallerslebens Dichtung wurde als „unpolitisch“ getarnt, während sie hochpolitisch war. Schwab wird seine Lehrveranstaltung entzogen, weil seine Positionen „mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar“ seien. Die Ironie ist, dass beide Männer – der eine im 19. Jahrhundert gegen die Zensur kämpfend, der andere heute die Grundrechte des Bürgers verteidigend – im Grunde für die Werte der Meinungs- und Lehrfreiheit eintraten, die in einer echten Demokratie als unantastbar gelten müssten. Die Institutionen oder ihre Repräsentanten (damals der preußische Staat, heute die studentische Fachschaft) instrumentalisieren das hohe Gut der „Ordnung“, um kritische Stimmen zu disziplinieren.

    Die Mechanismen der Vernichtung: Während Fallersleben im 19. Jahrhundert durch den Entzug seiner Professur und seiner Pensionsansprüche existenziell vernichtet wurde, findet die moderne „Kanzelung“ subtiler, aber nicht weniger effektiv statt. Durch die Distanzierung der Fachschaft wird Schwab in den Augen künftiger Arbeitgeber, Kollegen und Studenten diffamiert und seine Glaubwürdigkeit beschädigt. Die Folge ist ein „Chilling Effect“ – die Abschreckung aller anderen Professoren und Dozenten, sich zu kontroversen Themen zu äußern oder kritische Mandanten zu vertreten. Die Konsequenz ist die Selbstzensur.

Jura-Professor und Querdenken-Redner: Findeisen-Verteidiger Martin Schwab

Die Verteidigung der Grundordnung beginnt bei der Kritik

Die wahre Gefahr dieser Mechanismen liegt nicht nur im Einzelfall Schwab, sondern in der Ausbreitung eines Denkens, das die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ nicht als Rahmen für lebendige, auch unbequeme Kontroversen versteht, sondern als ideologisches Bekenntnis, das Abweichungen nicht duldet. Die Essenz einer freiheitlichen Gesellschaft ist das Recht auf den Dissens. Die Universität, als Hort der Wissenschaftsfreiheit (Artikel 5 GG), ist explizit dazu berufen, Thesen, Ansichten und auch staatliche Maßnahmen kritisch zu hinterfragen.

Wenn eine studentische Vertretung über die Vereinbarkeit der außeruniversitären Äußerungen eines Professors mit der Grundordnung befindet und daraus Sanktionen – wie den Entzug einer Lehrveranstaltung – ableitet, wird die Grenze zur politischen Zensur überschritten. Es wird eine Präzedenz geschaffen, die die akademische Freiheit in Deutschland fundamental untergräbt.

Der Fall Martin Schwab ist somit mehr als eine Fußnote in der universitären Tagespolitik. Er ist ein leuchtendes, wenn auch düsteres, Signal dafür, dass die Tradition der Angst vor dem kritischen Geist, die Hoffmann von Fallersleben seine Professur kostete, heute wieder an Einfluss gewinnt. Die „glücklichen Sklaven“, die Fallersleben einst beklagte, sind jene, die den einfachen, konformen Weg wählen.

Es ist die Pflicht aller, die sich der Freiheit verpflichtet fühlen, gegen diese Form der intellektuellen Säuberung aufzustehen. Denn die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beginnt nicht mit dem Bekenntnis zur Konformität, sondern mit der Garantie, dass selbst unbequeme, scharfe und systemkritische Stimmen ihren Platz in der akademischen Lehre und im öffentlichen Diskurs behalten. Erst wenn der Professor, der die Rechte der Bürger verteidigt, genauso selbstverständlich lehren darf wie der Dichter, der die Obrigkeit satirisch anprangert, kann Deutschland wirklich behaupten, die Schatten des 19. Jahrhunderts und aller autoritären Tendenzen hinter sich gelassen zu haben. Bis dahin bleibt der Fall Martin Schwab ein stummer, aber lauter Ankerpunkt der Ungewissheit in unserer vermeintlich besten aller Zeiten.